Ketzer: Im Gespräch mit Redakteur und Übersetzer

Ketzer – Tödliches Wissen über die Bewegung der Erde
Interview mit Redakteur Jörg und Übersetzer Ruben

 

Mit Ketzer – Tödliches Wissen über die Bewegung der Erde startet im März 2023 ein ganz besonderer Titel im altraverse. Spannend wie anspruchsvoll beleuchtet der Manga den menschlichen Drang nach Wissen – in einer Zeit, in der man durch Forschungen, die die Kirche ablehnt, nur allzu schnell als Ketzer gilt. 

Nicht nur inhaltlich gibt es viel über Ketzer zu erzählen, deshalb haben wir Redakteur Jörg und Übersetzer Ruben ein paar Fragen gestellt, um euch die Vielschichtigkeit dieses Titels näherzubringen und euch einen Einblick in die Bearbeitung des Mangas zu geben.

 

ketzer-01-coverVielen Dank, dass ihr euch die Zeit nehmt, unseren Leser*innen mehr über eure Arbeit an Ketzer – Tödliches Wissen über die Bewegung der Erde zu erzählen.
Ganz kurz: Worum geht es in Ketzer?

Jörg: Ketzer ist … eine Hard Science Fantasy über die kopernikanische Wende: den Wandel des Weltbildes von einem geozentrischen (die Erde ist im Mittelpunkt des Universums) zum heliozentrischen (die Sonne ist im Zentrum).
Beginnend mit Rafal, einem talentierten Jungen mit Faible für die Astronomie, der bei einem Treffen mit einem Ketzer das heliozentrische Modell kennenlernt und gegen jede Vernunft und Empirie beschließt, diesen Entwurf weiterzuverfolgen, wird über viele Jahre und Charaktere die Theorie weitergereicht, verfeinert und unterfüttert, bis sich diese neue Idee schließlich durchsetzen kann.

 

Der japanische Titel der Serie (Chi – Chikyuu no Undou ni Tsuite) lässt viel Interpretationsspielraum. Wie kam der deutsche Titel zustande und was galt es dabei zu beachten?

Jörg: Die Welt von Ketzer nimmt überdeutlich Bezug auf die Zeitenwende in Europa vom Spätmittelalter in die Neuzeit. Daher fanden wir im Verlag einen japanischen Titel unpassend. Der Originaltitel Chi ist im Grunde nur ein Buchstabe aus dem japanischen Alphabet, der für sich allein stehend ungewöhnlich ist und im Kontext des Titels so etwas heißen könnte wie »Erde«, »Wissen« oder »Blut«.

Ein »Ketzer« ist jemand, der eine von der offiziellen Lehre abweichende Meinung vertritt (was für ihn gefährlich sein könnte). Das ist nur ein zentrales Thema der Serie und die (meisten) Charaktere werden als Ketzer betitelt, weshalb sich der Titel anbot. Aber auch spiegelt sich in dem Wort gewissermaßen »Wissen« und »Blut« wider und es schien uns daher auch der Idee des Autors nahezukommen (selbstverständlich wurde der Titel dem Autor auch vorgelegt und von ihm freigegeben).

Natürlich war es auch ein Hintergedanke, dass ein griffiger Titel ein paar mehr Leute auf das Werk aufmerksam macht.

 

Ruben hat sich um die Übersetzung von Ketzer gekümmert. Magst Du Dich einmal vorstellen?

Ruben: Hoi, ich bin Ruben und arbeite seit ein paar Jährchen als Übersetzer für (hauptsächlich) Anime und einer Weile auch Manga. Ich habe Japanisch lange im Selbststudium gelernt, später auch »richtig« studiert und einige Zeit in Japan verbracht. So hat eins zum anderen geführt und ich bin schließlich in diesem Beruf gelandet, wo ich mich auch nach wie vor sehr wohlfühle.

Wer Jujutsu Kaisen, Tokyo Revengers, Dr. Stone, Spy × Family oder BELLE mit deutschen Untertiteln geschaut hat, wird vielleicht schon mal was aus meiner Feder gelesen haben – aktuell übersetze ich die zweite Staffel von Vinland Saga, die mir unheimlich viel Freude bereitet.

 

Was hat Dich an Ketzer gereizt, dass Du Den Auftrag angenommen hast?

Ruben: Ich habe schon lange ein Faible für reale historische Settings und Themen abseits vom Mainstream in Anime und Manga. Es gibt zwar haufenweise Titel, die in einer vom europäischen Mittelalter inspirierten Fantasywelt spielen, doch tatsächliche historische Werke sind in unseren Gefilden rar. Ketzer hatte auch in Japan schon einige prestigeträchtige Preise gewonnen, die mir gezeigt haben: Das ist einen Blick wert. Entsprechend aufgeregt war ich, als mir der Titel dann angeboten wurde.

 

Jörg, wie bist Du dazu gekommen, Ketzer redaktionell zu betreuen, und was war Deine erste Reaktion darauf?

Jörg: Tja, Johannes als Programmleiter fand den gut und hat ihn mir zugewiesen. ^^ Aber wie er mir verraten hat, war es wohl auch ein Grund, den Titel mir zu geben, dass ich in einem früheren Leben mal Theologie studiert habe und da eine gewisse Vertrautheit und Affinität zu alten Texten, Geschichte und den in Ketzer behandelten Fragestellungen habe. Und tatsächlich habe ich es auch als Geschenk verstanden, Ketzer betreuen zu dürfen.

Ebenfalls habe ich mich sehr gefreut, dass Ruben die Übersetzung übernommen hat. Bei einem Titel wie Ketzer ist es, glaube ich, noch mal besonders wichtig, dass man auch wirklich Bock hat, den zu bearbeiten. Und bei Ruben war ich mir ziemlich sicher, dass er den hat, wenn er mir zusagt! ^^

 

ketzer-01-backcoverWas unterscheidet Ketzer in der Übersetzung und Bearbeitung von anderen Titeln?

Ruben: Recherche fällt bei fast allen Übersetzungen an. Gerade Manga beschäftigen sich ja gerne in großem Detail mit Nischenthemen aller Art. Neu für mich war aber, mich fürs Übersetzen in eine so komplexe Theorie einzulesen. Die Leute damals haben unter der Prämisse, dass die Erde im Zentrum des Universums steht, ja über Jahrhunderte allerhand Forschungen angestellt, um sich die Laufbahn der Himmelskörper zu erklären. Diese Modelle sind natürlich letzten Endes nicht haltbar – aber sie sind erstaunlich plausibel und nachvollziehbar, wenn man mal einen genaueren Blick drauf wirft. Das macht es ja so spannend: Die Figuren im Manga verabschieden sich ja nicht über Nacht von diesem Modell, sondern merken, wie es langsam zu bröckeln beginnt und eine andere Erklärung hermuss.

Einige der historischen Begriffe wie »Gegenerde« oder »Epizykel« findet man auch nicht in den typischen zweisprachigen Wörterbüchern. Da musste ich teilweise Schaubilder in beiden Sprachen vergleichen, um die korrekten Entsprechungen zu finden. Ich hatte in Ketzer außerdem viel Freude daran, zusammen mit Jörg mit der Sprache zu experimentieren. In einem historischen Setting sprechen die Figuren ohnehin ein bisschen anders – daher konnten wir uns hier ein wenig austoben. Das Ergebnis ist letztlich etwas zahmer geworden, als wir ursprünglich im Sinn hatten – der Weg dorthin war aber außerordentlich spannend!

Jörg: Die Recherche ist für mich mit das Schönste in diesem Beruf, kann man doch immer wieder neue Dinge lernen (mit denen man sich ansonsten womöglich nie beschäftigt hätte). Ketzer ist hier natürlich noch mal etwas Besonderes, da genau auf wissenschaftliche Theorien und deren Geschichte eingegangen und das zum Kern der Erzählung gemacht wird. Da musste man schon fast aufpassen, sich nicht in den Originalquellen und weiterführenden Texten zu verlieren. ^^

Auch haben wir recht lang überlegt, wie wir die Sprache gestalten wollten. Anfangs hatten wir überlegt, wenn schon mal ein Manga in einem historischen, deutschsprachigen Raum spielt, auch die Sprache der Zeit anzupassen – dafür haben wir dann etwa »deutsche« Originaltexte von Kopernikus oder den Simplicissimus* gelesen. Letztlich mussten wir aber merken, dass »altertümliche« Sprache oder gar Rechtschreibung insbesondere in den Dialogen, die sich um Astronomie, Philosophie oder allgemein Wissenschaft drehen, eher unnötig kompliziert und albern wirkte. Ein paar Schmankerl sind aber noch drin und verleihen Ketzer hoffentlich eine sprachliche Besonderheit, die das Eintauchen in die Welt noch spannender macht. Zumindest unser Testpublikum war recht angetan.

* Simplicissimus ist natürlich deutlich später als die Zeit, in der Ketzer spielt, aber sprachlich noch eins der ältesten Werke, die man auch mit seinem modernen Deutsch noch halbwegs flüssig gelesen bekommt. ^^

 

In welcher Zeitepoche spielt die Reihe und wie wird mit historischen Gegebenheiten umgegangen?

Jörg: Auch wenn es erkennbar im Umbruch vom späten Mittelalter zur Neuzeit in Europa angesiedelt ist, verzichtet Ketzer auf genaue Zeit- oder Ortsangaben. Ebenso sind alle Charaktere fiktiv. Man findet einige Anspielungen, so ist das »Königreich P.«, mit dem Band 01 beginnt, sicherlich eine Anspielung auf das Ermland – wahlweise Polen oder Königlich Preußen –, wo Kopernikus zu seiner Zeit Domherr war.

Aber letztlich geht es in Ketzer nicht um die korrekte Auflistung von geschichtlichen Daten, sondern allgemeiner um die Faszination für den Himmel, wie er entdeckt wird – und auch darum, was diese Erkenntnisse mit Menschen machen. Und in diesen Punkten ist Ketzer ziemlich wirklichkeitstreu.

Das Mittelalter im Allgemeinen wird etwas finsterer dargestellt, als es war. Und insbesondere die Rolle der Kirche ist deutlich dramatisiert. Der Charakter des Inquisitors in Ketzer, der Heliozentristen verfolgt, foltert und töten lässt, macht die ganze Geschichte zugegeben spannender und er ist einer der interessantesten Charaktere – aber auch wenn sich da die (katholische) Kirche nicht mit Ruhm bekleckert hat, war das real doch bedeutend harmloser. Da wurde niemand verfolgt, gefoltert, getötet. Kopernikus war Domherr, Kepler kannte das kopernikanische Modell aus seinem Theologiestudium … Eigentlich ziemlich spannende Geschichte für sich genommen, weil man da auch so viele Mythen im Kopf zu hat. Ich könnt jetzt einige Seiten hier dazu füllen; aber stattdessen einfach die Empfehlung, falls man nach dem Lesen von Ketzer Bock drauf hat, mal Wikipedia oder andere Lektüre zum Thema anzuschauen. Da gibt’s einige Aha-Momente.

 

Wie wird das Ganze grafisch untermalt?

Jörg: Ich brauchte zugegeben ein wenig, bis ich mit der grafischen Gestaltung von Ketzer warm wurde. Über viele Seiten wirkt Ketzer sehr roh und skizzenhaft. Was erst mal ungewohnt war. Bei der Bearbeitung und mit der Zeit funktionierte der Stil für mich aber immer besser. Es harmoniert sehr damit, dass auch das Thema – die Theorie des Heliozentrismus – roh und noch nicht abgeschlossen ist, die Charaktere noch daran feilen. Und umso stärker wirken dann auch die Seiten, die tatsächlich toll gezeichnet sind. Wenn die Charaktere voller Staunen auf den Himmel schauen und plötzlich darin eine Schönheit entdecken, die sie selbst nicht dort vermutet hätten, sitze ich als Leser auch da und staune und entdecke Schönheit. Braucht ein wenig, aber ich kann mir nicht mehr vorstellen, dass Ketzer als Gesamtwerk besser wäre, wenn es anders gezeichnet wäre.

 

Was sind eure Lieblingsstellen?

Ruben: Wir leben in einer Zeit, in der neue Entwicklungen Schlag auf Schlag erfolgen und sind gar nichts anderes gewohnt. Doch die Geschichte von Ketzer spielt zu einer Zeit, in der den Menschen weit weniger Werkzeuge und Wissen zur Verfügung standen. Folglich fand die Entwicklung solcher Theorien oft über Jahrzehnte und Jahrhunderte statt. Ich finde es sehr bewegend, wie dieser Staffelstab im Verlauf der Handlung auf verschiedenste Weise weitergereicht wird. Vor allem die Überleitung zur »nächsten Generation« am Ende des ersten Bandes hat es mir angetan.

Jörg: Die Stelle zieht sich eher durch den gesamten ersten Band – dass Rafal, der Hauptcharakter, nicht eine »Wahrheit« findet, die gegen die »Dummheit der Welt« verteidigt werden müsste. Sondern dass er erkennen muss, dass die wissenschaftlichen Mittel eher gegen seine Erkenntnis sprechen, er sie aber dennoch verfolgt. Das hat mich tatsächlich begeistert: dass der Titel seine Charaktere und das Thema ernst nimmt.

 

Für wen könnte der Titel interessant sein?

Jörg: Wer mal hoch zum Himmel auf die Sterne geschaut hat und ein Gefühl von »Wow« hatte, wird Gefallen an dem Titel finden. Wer sich für Geschichte interessiert, dem wird er gefallen. Wer sich für Wissenschaft interessiert, dem wird er gefallen. Wer im Allgemeinen Bock hat, mal etwas anderes zu lesen, dem wird er gefallen. Und wer Gefallen an der Vorstellung hat, im Anschluss Dokumentationen, Wikipedia und was auch immer anzuschauen, weil man einfach mehr zum Thema wissen will – japp, Ketzer begeistert einen, dass man so was plötzlich tut!

 

Was möchtet ihr den Leser*innen noch mitgeben?

Ruben: Obwohl Ketzer ein historisches Thema behandelt, ist es von der dramatischen Inszenierung durch und durch ein Manga. Wer also mit einem trockenen Schinken über mathematische Modelle und dergleichen rechnet, könnte nicht weiter daneben liegen: Es ist eine Geschichte mit einem starken emotionalen Kern und Figuren, mit denen man mitfiebert. Ob man nun geschichtsinteressiert ist oder auf Shonen- und Seinen-Manga steht: Ketzer ist definitiv einen Blick wert.

Jörg: Gebt Ketzer eine Chance – auch wenn es auf den ersten Blick nur mäßig interessiert (wenn’s euch interessiert, dann natürlich ohnehin). Über kaum einen Titel haben wir im Verlag, hab ich mit Freunden so viel gesprochen und diskutiert wie über Ketzer. Und die meisten hat der Titel noch weit über das bloße Lesen beschäftigt. Das ist eine große Stärke dieses Titels, die man nur selten findet. Es ist sicherlich kein Titel für jedermann – und okay, dann legt man ihn halt nach Band 01 zur Seite. Aber wer gar nicht reinschaut, der könnte ernsthaft was in seinem Leben verpassen. *hust*

 

ketzer-chibis

Falls ihr noch mehr über Ketzer – Tödliches Wissen über die Bewegung der Erde erfahren wollt, schaut doch auch mal in unseren Livestream zu dem Manga rein! Dort stellen euch Alp, Jörg und Johannes den Manga vor und gehen der Frage nach: Was ist eigentlich der Preis des Wissens? Den Stream findet ihr auf unserem YouTube-Kanal.